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Erdgeschoss-Entwicklung: AM BODEN BLEIBEN

Das Erdgeschoß ist oft das Stiefkind der Immobilienentwicklung, denn aus Angst vor Leerstand wird es meist als reine Funktionszone missbraucht. Dabei bietet es viele Chancen, wenn man Stadt und Quartier mitdenkt und mitkalkuliert.

23 . Juni 2023 - By Maik Novotny

Sie kennen das: Ob Neubau oder Zinshaus, das erste Bild im Portfolio ist fast immer der schöne Dachausbau. Terrasse, Panorama, Licht. Weiter unten bieten die Wohnungen immerhin einen Balkon, vielleicht einen Blick auf die Gründerzeitfassade gegenüber. Das Erdgeschoß? Muss man mit der Lupe suchen, abgesehen von blumig benannten »Gartenwohnungen« mit handtuchgroßen Terrassen und wenig Tageslicht. Straßenseitig präsentiert sich in der Regel eine breite Front der Tristesse: Tiefgarageneinfahrt, Müllraum, Fahrradraum. Das schmale Entree irgendwo dazwischen hineingequetscht, Deckenhöhe: zwei Meter 20.

Header Bild: Beim Umbau des Zürcher Headquarters der UBS-Bank räumten die Architekten EM2N viele frühere Umbauten beiseite und machten das Foyer wieder zum Teil der Stadt – und fanden dabei sogar noch Platz für ein Café. em2n.ch

ACHTUNG, STADTPARTERRE

Das Erdgeschoß mag zwar wenig zur Rendite beitragen, aber es ist das Interface, an dem das Haus der Stadt begegnet. Hier sollte sich ein Haus benehmen und das Gespräch -suchen. Angelika Psenner, Professorin am Städtebauinstitut der TU Wien, hat sich seit vielen Jahren mit dem Thema umfassend beschäftigt: »Wenn im Parterre eines Hauses nur mehr Autos wohnen, die einsichtigen Gassentüren zu geschlossenen Garagentoren umgebaut werden und die Fenster blockiert sind, gibt es hier keinen lebendigen Austausch mehr zwischen öffentlichem und privatem Raum. Wenn das in jedem Haus einer Gasse passiert, führt das zur Verödung des Stadtparterres.« Dabei gibt es genug Möglichkeiten, aus dem Erdgeschoss mehr zu machen. Man kann radikal sein und es komplett weglassen, wie beispielsweise Architekt Gon Zifroni bei seinem »Void House« in Brüssel. Man kann aber auch schlicht genug Platz frei räumen für ein würdevolles Entree, das mehr als ein Restraum zwischen der verwertbaren Kubatur ist, wie es Frötscher Lichtenwagner Architekten bei ihrem großvolumigen Neubau in der Wiener Spallartgasse taten: großstädtisch, geräumig und hell, mit einem Stiegenhaus, das an die besten Traditionen der Gründerzeit anknüpft. Aber was passiert rechts und links des Entrees? Wohnen direkt zur Straße ist bekanntlich problematisch. Welche Nutzungen eigenen sich stattdessen? In der Seestadt Aspern in Wien wurde das Einkaufsstraßenmanagement von Anfang an von der Entwicklungsgesellschaft in Kooperation mit einem Einzelhandelsunternehmen zentral gesteuert, was gut funktionierte, denn in einem neuen Quartier bedeutet eine Betriebsansiedlung für Kleinunternehmen ein hohes Risiko. Hier braucht es also Starthilfe. 

ZENTRALES MANAGEMENT

Auch im Sonnwendviertel Ost am Wiener Hauptbahnhof setzte man von Beginn an auf ein lebendiges Erdgeschoß, um das neue Quartier zu beleben, mit günstigen Mieten von vier Euro pro Quadratmeter. Hier fehlte allerdings das zentrale Management, daher holperte es am Anfang und viele Lokale ­blieben leer oder schlossen nach kurzer Zeit wieder. Nicht zuletzt, weil sich der Raumbedarf von Unternehmen viel schneller ändert und kurzfristiger artikuliert wird als beim vielfach regulierten Wohnbau, bei dem drei Jahre zwischen Auftrag und Eröffnung ­vergehen. Intensiv analysiert wurde das Stadtparterre in der Marktstudie »Erdgeschosse 4.0« des Immobilienberaters bulwiengesa aus Berlin: »Für das Funktionieren eines Stadtraums kommt der Erdgeschosszone eine außerordentlich hohe Bedeutung auf psychologischer, städtebaulicher und funktionaler Ebene zu. Für den ersten Eindruck gibt es bekanntlich keine zweite Chance«, wird unmissverständlich festgestellt. Die Formel »Erdgeschoß = Handel« besitze jedoch keine Allgemeingültigkeit mehr, da verschiedene Faktoren die Zahl potenzieller Mieter:innen immer stärker verringerten. »Angesichts der Grundstücks- und Baukosten lässt sich eine Erdgeschossfläche in der Regel erst ab Mieten von über 20 Euro pro Quadratmeter wirtschaftlich errichten« – außer es wird von einer Entwicklungsgesellschaft auf Quartiersebene oder über die Rendite der darüber liegenden Geschoße subventioniert.

GEWINN FÜR ALLE

Ein solches Quartiersmanagement kennzeichnet viele Best-Practice-Beispiele, denn hier verschiebt sich die Kalkulation vom Objekt auf die sogenannte Stadtrendite. Ein mehrfach preisgekröntes Beispiel ist das »Metropolenhaus« am Jüdischen Museum in Berlin-Kreuzberg. Im Rahmen eines ­Konzeptverfahrens war nicht der Bestbieter, sondern die Idee für den Grundstücks­zuschlag entscheidend. Basierend auf dem Konzept »Aktives Erdgeschoss« entstanden rund 1.000 Quadratmeter mit kleinen ­Läden, Gastronomie und Projekträumen für die Nachbarschaft, die von einem Verein kuratiert, für sechs Euro pro Quadratmeter vermietet und über den Verkauf der Einheiten in den Obergeschoßen querfinanziert werden. Mit Erfolg. Fazit: Das Erdgeschoß ist alles andere als eine Fußnote der Verwertung – es ist Schaufenster, Aushängeschild und erste Adresse, es macht das Haus zum Teil der Stadt, mit Gewinn für alle.

DIESER ARTIKEL ERSCHIEN IM RESIDENCES 2301

Breite Front »Aktives Erdgeschoss« lautete die Idee, mit der die Architekt:innen und Bauherr:innen das Konzept-verfahren für ein Berliner Grundstück gewannen. Der belebte Nutzungsmix wird über die Wohnungen in den Obergeschoßen querfinanziert. bfstudio-architekten.de

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