© Filip Dujardin

Architektur in Belgien: Von Rubens bis Recycling

Lange Zeit hatte Belgien den Ruf, besonders hässliche Architektur zu produzieren. Das hat sich geändert. Heute zählt Belgien zu den baukulturellen Vorzeigeländern Europas – und ist sogar Vorreiter im Umgang mit alten Baustoffen und hochwertigen Recyclingmaterialien.

16 . Juni 2023 - By Wojciech Czaja

Ich hab’s nicht so mit den dünnen Häusern, anorektische Architektur, das ist nicht mein Ding«, sagt er, lehnt sich an die gewellte Glasfassade und schaut hinaus auf die tausendfach verzerrte und durchgequirlte Stadt. »Wenn ich schon baue, dann will ich etwas zwischen meinen Fingern spüren, dann will ich’s richtig dick und fest. So wie bei Rubens. Kein Gramm weniger.« Willem Jan Neutelings ist nicht nur Barockliebhaber, sondern auch Architekt. Gemeinsam mit seinem Partner Michiel Riedijk plante er 2011 das neue Museum aan de Stroom, kurz MAS, in der belgischen Hafenmetropole Antwerpen. Das neue Kunsthaus am Ufer der Schelde beherbergt an die 470.000 Objekte, zusammengetragen aus dem Völkerkundemuseum, dem Kunsthandwerksmuseums, dem Ethnografischen Museum und dem Nationalen Schifffahrtsmuseum. Doch das wichtigste Exponat in der Sammlung ist das Gebäude selbst – eine 65 Meter hohe Neuinterpretation historischer Hafenspeicher. Die charakteristische Fassade aus roten Steinplatten ist ein Zitat auf alte Backsteinfassaden, wie sie in ganz Belgien immer wieder zu finden sind. Doch belgische Architektur wäre nicht belgische Architektur, wenn sie im Rahmen des traditionellen Baukanons aus historischen Vorbildern und altbewährten Baustoffen nicht auch eine Überraschung parat hätte. In diesem Fall ist dies die Glasfassade, die sich in Anlehnung an einen großen, prächtig inszenierten Vorhang rund um das Gebäude schmiegt. »Alles ist groß hier, nicht nur die Dimension, nicht nur das Steinformat, sondern auch das gewellte Glas«, sagt Neutelings und deutet hinüber zur Liebfrauenkathedrale, deren Turm in den bauchigen Wölbungen hin und her schwabbelt, mal dicker, mal dünner wird, sich doppelt und dreifach vermehrt. »Schauen Sie sich nur dieses wunderbare Panorama und diese betrunkenen, tanzenden Kirchtürme an! Ist das nicht großartig?« 

Headerbild: Z33 House for Contemporary Art Hasselt Die italienische Architektin Francesca Torzo ließ sich vom belgischen Handwerk inspirieren und errichtete den Zubau zum bestehenden Kunstmuseum. Die Keramikelemente für die 60 Meter lange und zwölf Meter hohe Fassade wurden in Handarbeit hergestellt und nehmen die Farben der Umgebung auf. z33.be, francescatorzo.it

Katholische Universität, Tournai Die Architekturfakultät der Université Catholique besteht aus
alten Industriegebäuden aus Backstein. Im Zuge eines Wettbewerbs wurde das portugiesische Büro Aires Mateus damit beauftragt, die einzelnen Bauten miteinander zu verbinden. Das neue Bauwerk orientiert sich an den charakteristischen Silhouetten von Tournai. uclouvain.be, airesmateus.com

© Tim Van de Velde

Markthalle, Gent Am Samstag wird der 700 Quadratmeter große Pavillon neben der Sint Niklaaskerk als Bauernmarkt genutzt. An allen anderen Tagen dient die ungewöhnliche Markthalle von Robbrecht an Daem Architecten, die sogar über einen Kamin verfügt, als öffentliches Wohnzimmer für alle. robbrechtendaem.com

© Bert Callens

Die belgische Architekturszene zählt heute zu den schillerndsten in ganz Europa. Tolle Architektur, ein hohes Verständnis von Baukultur und öffentlich-städtischen Belangen sowie ein sehr differenziertes, komplexes und auch jüngeren Generationen gegenüber faires Wettbewerbswesen haben Belgien in den letzten 20 Jahren zum europäischen Vorzeigekandidaten katapultiert. Doch das war nicht immer so. Der ­amerikanische Kunsthistoriker Kidder Smith schrieb 1961: »Von allen europäischen ­Ländern darf Belgien als letztes entschuldigt werden, dass es nicht mehr zur zeitgenössischen Architektur beiträgt. Angesichts einer gebildeten und fähigen Bevölkerung sowie eines extrem hohen Lebensstandards lässt sich die Mittelmäßigkeit seiner Architektur nur erklären mit dem Desinteresse seiner Offiziellen, der Unzulänglichkeit seines Ausbildungssystems und seinem schlappen Materialismus.« Und der belgische Stadtplaner Renaat Braem bezeichnete Belgien Ende der Sechzigerjahre gar als das »hässlichste Land der Welt«. Negative Highlights ­belgischen Schaffens sind auch heute noch im sehr lustigen Blog »Ugly Belgian Houses« dokumentiert. »1999 aber«, sagt Erik Wieërs, »hat sich vieles schlagartig verändert. Für die belgische Baukultur ist diese Jahreszahl die Geburtsstunde eines neuen Qualitätsmaßstabs, der bis heute nachhaltige Wirkung zeigt.« In diesem Jahr nämlich wurde der sogenannte Vlaams Bouwmeester als neue Institution eingeführt. Der flämische Baumeister – so die wörtliche Übersetzung – ist eine Art Chefarchitekt und Chefkurator für Projekte der öffentlichen Hand sowie für sämtliche Privatbauherr:innen, die sich Hilfe, Beratung und Unterstützung holen möchten. Darüber hinaus kümmert sich der Vlaams Bouwmeester um die Organisation, ­Durchführung und Prozessbegleitung von öffentlichen Architekturwettbewerben in ganz Flandern. »Bis 1999 gab es in Belgien keine ­Wettbewerbe und keine qualitative ­Kontrollinstanz, und alle konnten bauen, wie sie wollten«, sagt Wieërs im Gespräch mit Living, der das Mandat des Vlaams Bouwmeester von 2020 bis 2025 innehat. »Doch mit der Einführung des Vlaams ­Bouwmeester ist die Qualität deutlich gestiegen. Wir haben eine sehr etablierte Baukultur, die – ähnlich wie beim MAS in Antwerpen – auf einem hohen Niveau mit dem traditio­nellen Kanon spielt und jongliert. Manchmal entstehen auch sehr lustvolle Dinge.« Doch die größte Besonderheit in Belgien ist für Wieërs das zunehmende Bewusstsein für kreatives Reuse, Recycle und Rethink, wie dies etwa vom Brüsseler Kollektiv Rotor ­vorexerziert wird: Mit wenig Budget werden handelsübliche Baustoffe und alte, gebrauchte Produkte in einen ganz neuen Kontext gestellt und mit viel Humor und Poesie verbaut. »Es wird nichts erfunden, aber plötzlich steht ein Rundbogenfenster am Kopf, dient ein ­Pflasterstein als Geländer, wird aus einem Dachziegel eine Fassade gemauert. Ich denke, dieses Umdenken und Neudenken macht uns aus. Wir haben gelernt, mit Zwängen umzugehen. Das hässlichste Land der Welt sind wir schon lange nicht mehr.«

Markthalle, Gent Am Samstag wird der 700 Quadratmeter große Pavillon neben der Sint-Niklaaskerk als Bauernmarkt genutzt. An allen anderen Tagen dient die ungewöhnliche Markthalle von Robbrecht an Daem Architecten, die sogar über einen Kamin verfügt, als öffentliches Wohnzimmer für alle. robbrechtendaem.com

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