© Tobias Colz

Skulpturale Hightlights: Treppen und Stiegenhäuser

Treppen und Stiegenhäuser sind ein notwendiges Übel, um von einer Etage auf die nächste zu gelangen. Von wegen! In diesen Projekten sind sie skulpturale Highlights, denen es gelingt, die zweidimensionalen Grundrisse des Wohnens und Arbeitens auf aufregendste Weise miteinander zu verbinden.

14 . Oktober 2023 - By Wojciech Czaja

Header Einfamilienhaus, San Vicente de Paúl, Valencia Eine elegante Stahlskulptur, minimalistisch und ohne jeden Schnickschnack: Setzstufen, Trittstufen, Geländer, Handlauf und Untersicht scheinen bei diesem Projekt von Balzar Arquitectos nahtlos ineinander zu fließen. 

Tupfen, Kringel, Wellen, Dreiecke und wilde, über die ganze Wand wandernde Zickzackmuster, mit Hochglanzfarbe von Farrow & Ball an die Wand gepinselt, dazu Vintage-Leuchten, Spiegel von Chris Schanck und Misha Kahn, eigens entworfene, in Handarbeit gefertigte Teppiche, und als wäre das alles nicht schon genug des Guten, gibt es als Draufgabe noch vergrößerte Polaroids von Rappern, Popstars und diversen Supermodels, gold und silber eingerahmt, sich mit einer selbstbewussten Opulenz in diese ohnehin schon wilde LSD-Matrix fügend, und dann, von der gläsernen Decke auf unsichtbaren Fäden ins Stiegenauge hinabhängend, kleine, weiße, farblose Skulpturen, als würde es Kunst vom Himmel schneien. »Design soll weltlich und intellektuell sein und darf dennoch Spaß machen«, sagt die New Yorker Künstlerin und Innenarchitektin Sasha Bikoff, die an der George Washington University in Washington, D.C. sowie an der American University in Paris Kunstgeschichte und bildende Kunst studierte, ehe sie beschloss, die hehre Welt der ernsten Formen und Farben hinter sich zu lassen und sich von nun an Lustigerem, Vergnüglicherem, Hedonistischerem zu widmen. Ihre Arbeit ist »augenfällig« und »psychedelisch«, wie in Zeitungen und Zeitschriften immer wieder zu lesen ist, jedes fertige Projekt für sich selbst genommen eine »Instagram-Sensa­tion« mit »Überraschungsmoment«. 

Kips Bay Show House, New York Die New Yorker Interior-Designerin Sasha Bikoff gestaltete dieses opulente Stiegenhaus an der Schnittstelle zwischen Rokoko, Memphis und Opt-Art. 

 

© Genevieve Garuppo

Roy and Diana Vagelos Education Center, New York Medizinische Ausbildung, vertikal übereinandergestapelt und mit einerumlaufenden Treppen-landschaft miteinander verbunden – ein atemberaubendes -Projekt von Diller, Scofidio + Renfro Architects

 

© Iwan Baan

So auch das Stiegenhaus im New Yorker Kips Bay Decorator Show House in der Upper West Side, nur wenige Schritte vom Hudson River entfernt. Seit 1973 bereits werden Jahr für Jahr Designer und Innen­architektinnen aus aller Welt eingeladen, für Kips Bay ein Haus in Manhattan zu gestalten und in eine temporäre Ausstellung für Kunst, Design und Technologie zu verwandeln. An Sasha Bikoff ging ein besonders ungewöhn­licher Auftrag, sollte sie sich doch des Stie­genhauses im historischen Unternehmens-Showroom annehmen. Das Projekt, so der Deal, solle sowohl Besucher und potenzielle Kundinnen als auch die jungen, kreativen, minderjährigen Mitglieder des 1915 ge­gründeten Kips Bay Boys & Girls Club ansprechen.  Bikoff reagierte auf diese Aufgabe mit einem üppigen »Technicolor-Traum«, wie sie dies ausdrückt. Das Design liegt an der Schnittstelle des französischen Rokoko des ausgehenden 18. Jahrhunderts und der italienischen Memphis-Gruppe der 1980er-Jahre, an deren Spitze einst Ettore Sottsass und Alessandro Mendini standen. Und: Die bunten Farben und überbordenden Dekore sind nicht nur Selbstzweck, sondern sollen das knappe Stiegenhaus mit seinen engen, schmalen Treppenabsätzen, während man vom Erdgeschoß bis in den letzten Stock hochwandert, als großzügigen Ausstellungs- und visuellen Abenteuerraum erlebbar machen. 

Tree Top Residence, Los Angeles Eingebettet in eine dicht bewaldete
Landschaft mit Blick auf die Stadt. Innen hat das BA Collective das Thema Holz in Form einer exzentrischen Wendeltreppenskulptur fortgesetzt. 

 

© Bruce Damonte

Lagerhaus-Sanierung, Matosinhos Gestern Industriebau, heute Headquarter
für die Kreativwirtschaft. Der portugiesische Architekt Paulo Merlini beweist, dass es zu -klassischen Treppen auch eine Alternative gibt – zum Beispiel eine treppenlose Wendelrampe.
 

© Ivo Tavares Studio

Gleiche Stadt, gleiches Programm, ganz andere architektonische Ausformulierung: 65 ­Straßen stadtaufwärts, an der Haven Avenue, Ecke 171. Straße, befindet sich das Roy and Diana Vagelos Education Center. Das 14-stöckige Laborgebäude ist Teil der Columbia University und soll dazu beitragen, die medizinische Ausbildung transparenter und vor allem partizipativer zu machen – mit einsichtigen Vorlesungssälen, teambasierten Studien- und Übungsräumen, einem rundum verglasten Auditorium für 275 Studierende sowie einer sich hinaufschraubenden Treppenskulptur: Mit Blick auf die Stadt kann man auf einer der Stufen Platz nehmen und sich zum Lesen oder Mittagessen an die Glasfassade schmiegen. »Es ist immer eine Herausforderung, einen Übergang zwischen dem öffentlichen Raum einer Stadt und dem privaten Raum eines Gebäudes zu schaffen«, sagt Elizabeth Diller, Partnerin im zuständigen Architekturbüro Diller, Scofidio + Renfro, die 2018 vom Time Magazine zu einer der einflussreichsten Frauen weltweit gekürt und 2019 mit dem Women in Architecture Award ausgezeichnet wurde. »Doch bei diesem Universitätsgebäude, denken wir, ist die Schnittstelle besonders gut gelungen. Die gläserne Kaskade entlang der Fassade ist nicht nur eine aufregende Treppenlandschaft, sondern auch ein 14-stöckiges Netzwerk vertikal verbundener Räume in verschiedenen Größen und Funk­tionen – mal drinnen, mal draußen, mal privat, mal sozial, mal gemeinschaftlich.« Nicht nur in New York und nicht nur in öffentlichen Kultur- und Bildungsbauten, sondern auch im eigenen Wohnumfeld spielen Stiegen und Treppen eine zentrale Rolle. Häufig sind sie das Tüpfelchen auf dem i, das skulpturale Highlight im Raum, das alles verbindende Gimmick zwischen den Ebenen. »Trotz der drei Dimensionen, die uns in der Architektur zur Verfügung stehen, sind wir beim Bauen meist auf das Zweidimensionale beschränkt, denn jeder Wohn- und Arbeitsraum braucht horizontale Ebenen, um ihn nutzen zu können«, sagt Christian Kircher, Partner bei smartvoll Architekten. »Die Treppe ist daher ein besonders wichtiges Element, um diese waagrechten Ebenen miteinander zu verbinden.« Im Loft in der ehemaligen Panzerhalle in Salzburg, die 1939 als Teil der Struber­kaserne errichtet und bis 1985 als Werkstatt für Militärfahrzeuge und Panzer genutzt wurde, hat Kircher diese Worte in eine dreidimen­sionale Form gegossen – und das im wörtlichsten Sinne. Die von smartvoll gestaltete Treppe, die vor Ort in einem aufwendigen Verfahren geschalt und schließlich mit Beton ausgegossen wurde, verbindet die beiden Wohnebenen im Dachgiebel der ehemaligen Halle und schafft auf diese Weise eine visuelle Einladung, die Schwerkraft hinter sich zu lassen und schwerelos nach oben zu gleiten. »Wir haben uns entschieden, die Treppe bewusst weich und organisch zu gestalten, denn sie soll zwischen den beiden Etagen nicht als Barriere, nicht als notwendiges Übel, sondern als Teil der Gesamtkomposition verstanden werden«, so Kircher. Die vierläufige Treppe mit Zwischenpodest ist freitragend, auf vertikale Setzstufen wurde bewusst verzichtet, stattdessen scheinen sich die Trittstufen wie von Bildhauerhand aus dem Treppenlauf zu wölben. Zur baurecht­lichen Sicherheit gibt es eine maritim anmutende Metall-Reling mit gespannten Stahlseilen. Der Rest ist Genuss, mit jedem einzelnen Schritt, von einem Höhenmeter zum nächsten. 

One Sanlitun Tower, Peking Inmitten des geschäftigen Pekinger Bezirks Sanlitun steht der Residential Tower One Sanlitun. Eines der Luxuslofts hat Bottega Veneta in Zusammenarbeit mit dem Hongkonger Label Cheng Chung Design gestaltet. Die Treppe wurde kürzlich mit dem IF Design Award 2023 ausgezeichnet. 

© Wang Ting Stand

Georgian House, London Wie saniert man ein historisches Haus im königlichen Stadtteil Kensington and Chelsea? Zum Beispiel mit einer selbstbewussten, knapproten Treppe aus Lochblech, die wie eine Skulptur von der Decke hängt. 

 

© Gavriil Papadiotis

Loft in der Panzerhalle, Salzburg Wo einst Panzer und Militärfahrzeuge repariert wurden, schwebt nun einer der elegantesten, schwerelosesten Treppenläufe Österreichs: smartvoll Architekten haben diese organische Skulptur in Beton gegossen und mit einer Stahl-Reling verfeinert.
 

© David Zarzoso

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