© OXMAN

Im ständigen Wandel: Architektur und Materialien

Architektur und Materialien verändern sich im Laufe der Zeit. Forschungen bringen hierzu Alternativen außerhalb vorgefertigter Normen. Neri Oxman gehört zu jenen Vordenker:innen, die naturzentriertes Design vorantreiben.

04 . Oktober 2023 - By Elisabeth Klokar

Header Von Mannahatta zu Man-Nahata Heute menschenzentriertes kulturelles Zentrum, einst naturzentrierte Ökonik. Bei diesem Projekt greift man auf Manhattans Landschaften vor den 1600er-Jahren zurück, als das »Land der vielen Hügel« geprägt war von Tälern, Wäldern, Feuchtgebieten und Bächen. In vier Stadtstudien – Emergence, Growth, Decay, Rebirth – demonstrieren die Modelle schließlich die Jahre 2100 bis 2400 und zeigen Wachstum, Verfall und Wiedergeburt einer Stadt. 

Fellinis »La Dolce Vita« inspiriert sie, ihre Eltern, beide Architekten und äußerst kunstaffin, prägten ihren Lebensweg, sie bewundert Francis Ford Coppola oder Barbara McClintock und möchte »die Designlandschaft von Grund auf radikal verändern«, wie sie dem Onlinemagazin Madame Architect einmal verriet. Wer aber ist Neri Oxman? Hat man noch nie von dem Namen gehört, sucht man intuitiv erst einmal im Internet. Eine erste Google-Suche lenkt den Pfad schnell auf Schlagzeilen von Gala, Bunte und Co, die den prominenten Namen Brad Pitt enthalten, samt Spekulationen über eine mögliche Liaison zwischen den beiden. Inzwischen ist Neri Oxman mit dem Hedgefonds-Manager Bill Ackman verheiratet. Viel interessanter aber ist: Ihren »Promi-Status« verdiente sich Oxman mit hochkomplexen (Grundlagen-)Forschungen, die Google mit den Schlagworten »Bio-Architektur« und »material ecology« verbindet. So arbeitete die Design-Pionierin mehr als zehn Jahre am Massachusetts Institute of Technology (MIT) als Professorin, gründete dort die interdisziplinäre Mediated Matter Group und forschte mit ihrem Team an der Schnittstelle zwischen Architektur und Wissenschaft mit dem Fokus auf alternative Baumaterialien. Dafür prägte sie den Begriff Materialökologie. Inzwischen wohnt sie in New York und baut hier ihr eigenes Unternehmen Oxman auf, das Architekturbüro, Biotech-Unternehmen und Designstudio ist, quasi ein Melting Pot an Wissen für zukünftige komplexe Systeme rund um neue Architekturfragen. Welche Mission die amerikanisch-israelische Architektin und Erfinderin genau damit verfolgt, lässt sich anhand vieler Projekte erörtern. Aber der Reihe nach.

Studien für Francis Ford Coppolas Megalopolis Man-Nahāta wurde vom Regisseur Francis Ford Coppola in Auftrag gegeben: ein episches Set in einem zukünftigen New York City. Neri Oxman schafft Synergien zwischen Manhattans kultureller Vielfalt und biotischem Lebensraum. Präsentiert wurden die Modelle 2022 im San Francisco Museum of Modern Art.

© Matthew Milman

Aguahoja II Der Turm ist der zweite Prototyp in einer Reihe,
deren organische Biopolymerhaut – hauptsächlich Pektin und Chitosan (Krabbenschalen), natürliche Pigmente und Farbstoffe aus Roter Bete, Kurkuma, Schmetterlingsblütler und Tintenfischtinte – aus dem 3D-Drucker stammt. 

© Neri Oxman

Wissenschaft, Technik und Design

Neri Oxman ist Beobachterin, Forscherin und Gestalterin. Ihre Arbeiten sind entweder von der Natur inspiriert, informiert oder gewachsen; Prozesse, aus denen sie völlig neue Arten von Materialien für völlig neue Arten von Gebäuden ableitet: für ein Leben mit der und nicht gegen die Natur. »Während der menschliche materielle Reichtum Land und Ressourcen beansprucht, stellt die Umweltgesundheit das natürliche Gleichgewicht wieder her und fördert sie, um allen gegenseitig zugute zu kommen. Oxmans radikale Perspektive stellt sich ein alternatives architektonisches Vermächtnis vor, das eine menschenzentrierte gebaute Umgebung auf den Kopf stellt, um die Natur neu zu priorisieren«, so Jennifer Dunlop Fletcher, Kuratorin für Architektur und Design am San Francisco Museum of Modern Art (SFMOMA), das 2022 die Ausstellung »Nature × Humanity: Oxman Architects« zeigte, der bisher umfangreichste Querschnitt, bestehend aus knapp 40 Arbeiten, der promovierten Architektin. Schon 2020 rückte das MoMA das Thema Future Design mit der Ausstellung »Neri Oxman: Material Ecology« in den Fokus. Präsentiert wurde unter anderem die Fortsetzung des Silk Pavilion I aus dem Jahr 2013, eines ihrer markantesten Entdeckungen und Kollaborationen mit der Natur. Für den ausgestellten Silk Pavilion II drehten sich zuvor 17.000 Seidenraupen horizontal über ein wasserlösliches Gestrick, das über einen Edelstahlrahmen gespannt war. Während sich die Seidenraupen vorwärts bewegten, half ein sich rotierender Dorn dabei, ihre Bewegungsrichtung nach oben zu lenken. Wärme- und Lichtveränderungen beeinflussten die Raupen zusätzlich, sodass die Dichte der resultierenden Seide über die gesamte Struktur hinweg variiert. Und immer wieder stellt sich die vielfach ausgezeichnete Architektin neue Fragen: Wie könnte eine nachhaltige Bauweisen für die Zukunft aussehen? Wie können Menschen und andere Lebewesen beim Bau von Objekten, Pro­dukten und Gebäuden zusammenarbeiten? »Wir stehen heute vor sehr dringenden und tiefgreifenden Problemen … und spekulative Designer:innen können es sich nicht mehr leisten, sich nur mit Science-Fiction zu beschäftigen«, so Paola Antonelli, die Kuratorin der MoMA-Ausstellung, die Neri und nicht nur ihre Werke als »experimentell, organisch, visionär, großzügig und hoffnungsvoll« beschreibt. 

Silk Pavilion I Am MIT Media Lab erforschten Oxman und ihr Team die Beziehung zwischen digitaler und biologischer Herstellung auf Produkt- und Architekturebene. Inspiriert von der Fähigkeit der Seidenraupe, aus einem einzigen Seidenfaden einen 3D-Kokon zu erzeugen, wurde die Gesamtgeometrie des Pavillons mithilfe eines Algorithmus erstellt, während ein Roboterarm den Prozess imitiert. Im Anschluss vervollständigen 6500 lebende Seidenraupen die Struktur.

 

© MIT

Das Credo: »Grow everything!«

Für die Realisierung der metaphysisch anmutenden Entwürfe und Installationen verbinden sich in Oxmans Labor computer­gestütztes Design, Elemente der Architektur, 3D-Druck, Wissen der Materialwissenschaft, des Ingenieurwesens und der synthetischen Biologie miteinander, um Lösungen für jene Fragen zu bekommen »die möglicherweise noch nicht existieren«, wie sie in Interviews öfters erklärt. Ihre Fiktion ist real und gedeiht unter dem Mikroskop zu Gebilden heran, wo die Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst verschwimmen. Ihre Aguahoja-Pavillons erinnern an übergroße Kokons, sind biokompatibel und determiniert zersetzbar, materialproduzierende Lebewesen (er)schaffen Wearables, ihr synthetisches Bienenhaus ist ein Architektur-Experiment und die mittels G3DP2-gedruckten Objekte und Stelen aus geschmolzenem Glas möglicherweise bald ein neues Baumaterial. Ihre »biologische Alchemie« sammeln Neri und ihr Team in einer Art Materialbibliothek, die wünschenswerterweise eines Tages Architekt:innen und Designer:innen nutzen können. Oxmans Architekturstudio veröffentlicht aber nicht nur Materialforschung, sondern bezieht gleichzeitig die Menschen durch Kunstausstellungen mit ein. So finden sich Oxman-Arbeiten in den Sammlungen der größten Museen, etwa im MoMA New York, im San Francisco Museum of Modern Art, ebenso im Centre Pompidou oder im MAK Museum of Applied Arts Vienna. »Man-Nahāta«, ihr städtisches Studienmodell von Manhattan, das mittels Wachstumsalgorithmen eine Umwelt der Zukunft skizziert, debütierte etwa in der SFMOMA-Ausstellung. Und wer weiß, vielleicht werden in naher Zukunft Bauwerke oder ganze Städte aus Materialien gebaut, die Licht und Energie produzieren und speichern, auf veränderte Umwelt­bedingungen autonom reagieren sowie die Umgebung nachhaltig beeinflussen können. Vor allem gibt es solche Anlagen bereits und deren Bewohner überleben seit fast 100 Millionen Jahren: Ameisen und Bienen.

»Was wäre, wenn von Menschenhand geschaffenes und von der Natur gewachsenes Produkt nicht zu unterscheiden wäre?« 

Neri Oxman Materialökologin

© Steven Ferdman/Getty Images

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