© alle Bilder Chris Singer

LIVING Salongespräch: Wie schafft man Sommerfrische?

Das alljährliche Verreisen in kühlere Gefilde hat eine lange Tradition. Doch wo steht die Sommerfrische heute? Und wie kann man das europäische Kulturgut auf das eigene Wohnen übertragen? Ein Gespräch mit Hotelier Florian Weitzer, Architektin Ulrike Tinnacher und dem Wiener Historiker Peter Payer.

14 . August 2023 - By Wojciech Czaja

LIVINGFahren Sie heuer auf Sommerfrische? 

Ulrike Tinnacher Ich fahre regelmäßig auf Sommerfrische an den Traunsee, in den heißen Monaten meist von Donnerstag bis Sonntagabend. Das sind zwar nur sehr kurze Erfrischungen, aber dafür über den ganzen Sommer verteilt.

Peter Payer Ich fahre nach Payerbach. Ganz in der Nähe haben wir ein kleines Haus mit Garten, und in meinem Fall ist die Sommerfrische nicht nur eine Flucht aus der Stadt, sondern tatsächlich auch eine Flucht vor der Hitze, denn alles über 30 Grad Celsius ist für mich eher schwer aushaltbar. Das Klima nahe der Rax ist angenehm frisch. 

Florian Weitzer Ich bin ein absoluter Sonnenmensch. Meine heurige Sommerfrische führt mich und meine Familie an die Côte d’Azur. Wir fangen in Nizza an, fahren bis Marseille und dann weiter nach Barcelona. Also keine klassische Sommerfrische, aber zumindest eine frische Meeresbrise.

Wann und wo ist denn die Sommerfrische entstanden? 

Payer Die Sommerfrische ist Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden, im Grunde genommen zeitgleich mit dem Ausbau der Eisenbahn und somit mit der Demokratisierung und Beschleunigung des Reisens. Interessant finde ich, dass die Sommerfrische ein durchwegs internationales Phänomen war. Das gab’s in Wien, in München, in Berlin, aber auch in vielen Großstädten in den USA.

Weitzer Wer ist eigentlich auf die geniale Idee gekommen, die sommerliche Auszeit »Sommerfrische« zu nennen? 

Payer Soviel ich weiß, ist der Begriff in Südtirol entstanden. 

Tinnacher Eine großartige Namenskreation! 

Semmering und Salzkammergut sind weithin bekannt. Welche Städte und Regionen waren als Sommerfrische-Destination sonst noch beliebt? 

Payer Sehr beliebt waren der Wienerwald, das Kamptal in Niederösterreich und natürlich auch Bad Gastein. Ganz generell lässt sich sagen: Die sogenannte »Kleine Sommerfrische« hat man meist im Wienerwald verbracht, oft als Gäste in einem Bauernhaus, während die Bauern für die Dauer der Vermietung ins Nebenhaus ausgesiedelt sind. Je wohlhabender man war, desto weiter weg und desto länger begab man sich auf Sommerfrische. 

Tinnacher Das Salzkammergut war aufgrund des Salzhandels und seiner späteren Vermarktung als Kurregion immer schon eine wirtschaftlich florierende und somit sehr wohlhabende Region, und das merkt man auch in der Architektur. Die Villen und Sommerfrische-Häuser rund um den Traunsee sind extrem detailverliebt.

Gab es denn so etwas wie eine typische Sommerfrische-Architektur? 

Tinnacher Das kann ich nicht beurteilen, ich bin keine Architekturhistorikerin. Was aber für das Salzkammergut ganz typisch ist, sind die schönen Gründerzeithäuser, die meist in der Nähe der historischen Altstädte errichtet und zur Sommerfrische genutzt wurden – mitten im Grünen, fußläufig erreichbar, meist mit viel Holz und feinen, kleinteiligen, oft sogar romantischen Versatzstücken. 

Weitzer Wobei man das differenzieren muss. Bei den Villen und kleinen, süßen Häusern handelt es sich tatsächlich um klassische Holzbauten. Bei den großen Grandhotels hingegen wurde oft sehr modern und mit den neuesten Technologien gebaut – und das Erscheinungsbild war meist nichts anderes als eine Retrofassade mit historisierenden Versatzstücken. Das 1910 errichtete Kurhaus Semmering beispielsweise war der erste Stahlbetonbau Niederösterreichs. Es gab bereits Lifte und hochwertige Sanitäranlagen, lange bevor das im Wiener Wohnbau üblich war! 

Payer Man darf nicht außer Acht lassen, dass die Sommerfrische ein Konstrukt eines wohlhabenden, oft auch jüdischen Großbürgertums ist. Man hat es sich gegönnt, die Annehmlichkeiten des Landes – wie etwa Ruhe, Romantik und frische Luft – mit den Annehmlichkeiten und technischen Errungenschaften der Stadt zu kombinieren. 

Wie hat sich das geäußert? 

Payer Innerhalb der Architektur waren das eben Lifte, aber auch Telefon, elektrisches Licht, großzügige Balkone und Terrassen. Im öffentlichen Raum wurde oft typisches Stadtmobiliar aufs Land exportiert – beispielsweise Parkbänke, Laternen, Uhren, Litfaßsäulen, Wetterhäuschen und Brunnen. Vieles war Katalogware, die man am Semmering und Salzkammergut genauso vorgefunden hat wie in Karlsbad, in Marienbad oder im französischen Biarritz. 

Weitzer Lustig, dass Sie das sagen! Ich war einmal im Hotel Waldhaus Sils-Maria im
Engadin, und obwohl 600 Kilometer Luftlinie dazwischen liegen, handelt es sich dabei um eine exakte Kopie des Semmering-Kurhauses. Architektur, Eisenbetonbauweise, Materialien, Entrée, Lobby – alles gleich! Das ganze Hotel war ein Déjà-vu. 

Tinnacher Der Vorläufer der Globalisierung! Ich finde das sehr spannend, denn manche Phänomene tauchen im Laufe der Architekturgeschichte immer wieder in unterschiedlichen Teilen Europas gleichzeitig auf. 

Payer Sommerfrische war im gewissen Sinne auch eine Modeerscheinung! 

Aber auch ein zelebriertes Kulturgut. Freud, Brahms und Schopenhauer gingen regelmäßig auf Sommerfrische. 

Payer Und zu den Stammgästen im Südbahnhotel am Semmering zählten etwa Karl Kraus, Stefan Zweig, Arthur Schnitzler sowie Gustav und Alma Mahler. All diese Menschen waren wichtige Zugpferde – so wie natürlich auch das gesamte Kaiserhaus. Bad Ischl ohne Franz Joseph wäre unvorstellbar! Die aktuelle Sommerfrische-Renaissance, die am Semmering oder in Bad Gastein zu beobachten ist, baut auf genau diesem historischen Erbe auf. Es geht um die Kombination aus Sommerfrische, Kunst, Kultur, Musik, Literatur, Kulinarik, Hedonismus …

Mit dem Zweiten Weltkrieg nahm die Sommerfrische ein jähes Ende. Mit dem Siegeszug des privaten Automobils in der Nachkriegszeit ging es eher nach Italien, Frankreich und Jugoslawien.

Tinnacher Aber heute habe ich das Gefühl, dass die Sommerfrische eine Art Renaissance erlebt. Bedingt durch Klimakrise, Corona-Pandemie, Flugscham und ein generell gestiegenes ökologisches Bewusstsein entdecken die Menschen wieder den Reiz der Heimat und die Vorteile der geografischen Nähe. 

Merkt man das auch in den Aufträgen und Bauaufgaben? 

Tinnacher Auf jeden Fall. Die Menschen wünschen sich wieder regionale, authentische Baustoffe. Es geht um die Inszenierung der Aussicht und um das Wohnen an der Schnittstelle zur Landschaft – mit Loggien, Balkonen, Terrassen, Pergolen oder Atrien. Was mich aber besonders freut: Immer mehr Leute wenden sich vom Neubau ab und interessieren sich nun für die Sanierung und Revitalisierung von Altbauten. Plötzlich planen wir nicht mehr nur tolle Villen, sondern kümmern uns um den Umbau von Jagdvillen, Ferienhäusern und Sommerfrische-Anwesen. Im Sinne der Kreislaufwirtschaft und Ressourcennutzung ist das ein schöner Weg. 

Herr Weitzer, auch Sie arbeiten gerade an einer Revitalisierung, und zwar am Wach-küssen des Kurhauses Semmering. Wie kam es dazu? 

Weitzer Bislang betreibe ich fünf Hotels in Wien und Graz, also ausschließlich im städtischen Raum. 2017 hatte ich die Idee, mich auf halber Strecke zwischen Wien und Graz nun auch in den ländlichen Raum hineinzuwagen. Der Semmering eignet sich perfekt dafür, denn er ist mit dem Zug leicht zu erreichen, und das Klima im Sommer ist ein Traum. 

Sie planen ein Haus mit 150 Zimmern. Wie wird sich das Hotel positionieren? 

Weitzer Das Kurhaus Semmering war immer schon ein durch und durch städtisches Objekt, denn die Wienerinnen und Wiener haben ihre urbane Vorstellung von Urlaub einfach mitgenommen – und damit auch ein Stückchen Stadt hinaus auf den Semmering. Genau daran knüpfen wir an. Das Kurhaus bleibt ein städtisches Hotel für städtische Klientel, mit allen Annehmlichkeiten, die man sich vorstellen kann. Wir werden unseren Gästen sogar ein Pick-up-Service vom Bahnhof anbieten, und zwar ausschließlich mit Elektro-Shuttles. Das ruhige, geräuschlose Reisen, das ich in einem E-Auto genießen kann, ist bereits Teil des Urlaubs. 

Payer Herr Weitzer, Sie haben gerade gesagt: »Ein städtisches Hotel für eine städtische
Klientel.« Im Kurhaus Semmering kann ich mir das sehr gut vorstellen, denn das Hotel steht
isoliert in der Landschaft, ohne Kontext zu bestehenden dörflichen Strukturen. Aber in der Regel ist genau das eine große Herausforderung. 

Inwiefern? 

Payer Wir sollten Sommerfrische nicht allzu sehr idyllisieren. Häufig ist die Sommerfrische eine Expansion der Städter:innen über eine ganze Region hinweg. Zwischen ihnen und Einheimischen kommt es unweigerlich zu Friktionen. Es liegt in der Verantwortung von touristischen Betreiber:innen, etwaige Konflikte zu moderieren und zwischen den Menschen zu vermitteln. 

Weitzer Natürlich! Das tun wir bereits. Die Entwicklung des Kurhauses ist ein sehr langfristiges Projekt. Wir arbeiten schon seit vielen Jahren daran, da braucht es definitiv viel Sensibilität. Die Fertigstellung ist für 2026 geplant, wir haben also noch etwas Zeit. 

Der Visionäre Der Grazer Hotelier Florian Weitzer träumt von einem durch und durch städtischen Kurhaus am Semmering, in dem er die Gäste mit Kunst, Musik, Kulinarik und einem Shuttle-Dienst mit E-Cars verwöhnen kann. 

Der Kritische Der Wiener Historiker Peter Payer bezeichnet Sommerfrische nicht als Idyll, sondern als eine Expansion der Städter:innen über eine ganze Region hinweg. Häufig kommt es dadurch zu Konflikten, die es zu lösen gilt. 

Die Bodenständige Die Wiener Architektin Ulrike Tinnacher will die Qualitäten der Sommerfrische auf das urbane Wohnen übertragen – mit Wasser, Freiräumen, Verschattung, Handwerk und regionalen Baustoffen.

Dem Sommer auf der Spur Der Airstream-Caravan vor dem Hotel Daniel Vienna ist seit Jahrzehnten ein Symbol für sommerliche Freiheit. Wie kann man diese Qualität auf das eigene Wohnen übertragen? Darüber diskutieren der Hotelbetreiber Florian Weitzer (l.), die Architektin Ulrike Tinnacher und der Wiener Historiker und Buchautor Peter Payer.

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LIVING Nr. 05/2023
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