© Chris Singer

LIVING Salongespräch: Wie würde ein archaisches Leben aussehen?

Bauen und Wohnen werden immer komplexer und technisch anspruchsvoller. Zugleich aber ist in der Architektur ein Gegentrend zu einer neuen Einfachheit zu beobachten. Was brauchen wir wirklich? Wo braucht es Fortschritt? Und wann ist es genug? Darüber sprechen Architekt Dietmar Eberle, Uniprofessorin Baerbel Mueller und der Klima- und Energieexperte Bernd Vogl.

27 . August 2023 - By Wojciech Czaja

Header Bild: Auf der Suche nach der Archaik Wie finden wir wieder zurück zu einem einfachen Leben? Baerbel Mueller ist Architektin und Forscherin in Österreich und Ghana und leitet das IoA Institute of Architecture an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Dietmar Eberle (M.) ist Gründer und CEO von Baumschlager Eberle Architekten, das in Europa, China und Vietnam tätig ist. Und Bernd Vogl ist seit 1. Januar Geschäftsführer des Klima- und Energiefonds. 

LIVINGWo sind Sie modern und fortschrittlich? 

Baerbel Mueller Ich arbeite oft an sehr abgeschiedenen Orten, zum Beispiel im Norden Ghanas, aber dennoch bin ich immer und überall online und per Mail und über soziale Netzwerke erreichbar. 

Bernd Vogl Ich habe es mir vor vielen Jahren zum Vorsatz gemacht, sämtliche Technologien und Innovationen, die ich propagiere und im grossen Massstab einsetze, in meinem eigenen Alltag auszuprobieren. 

Dietmar Eberle Ich muss gestehen, dass mich diese Frage nicht wirklich interessiert. Ich umarme alles, was auf mich zukommt. Ich sehe es als meine Verpflichtung als Architekt, bis zu einem gewissen Grad modern und fortschrittlich zu sein. Die Frage ist nur: Wo ist es sinnvoll und wo nicht? 

Und in welchem Bereich würden Sie sich als klassisch, konservativ, altbewährt bezeichnen? 

Vogl Ich denke, ich führe ein ziemlich klassisches Leben mit einem recht konservativen Lebensmodell: Job, Haus, Familie. 

Eberle Ich bin ein Anhänger von alten, bewährten Baustoffen und handwerklichen Methoden. Wo es Sinn macht, greife ich darauf gerne zurück. Und ich bin ein grosser Anhänger von Jahreszeiten und Saisons. Ich bemühe mich sehr, diesen Rhythmus in meinem Leben zu berücksichtigen. 

Mueller Ich habe schon oft unter extrem reduzierten Bedingungen gelebt. Ohne Strom und ohne fliessendes Wasser. Tagsüber ist es hell, in der Nacht ist es dunkel. Dieses einfache Leben hat durch seine Unmittelbarkeit einen eigenen Reiz, ohne das in ein zynisches Licht stellen zu wollen. Ansonsten kann ich mit Begriffen wie altbewährt und konservativ nicht viel anfangen. 

 

Die globale Vernetzerin Baerbel Mueller lehrt, forscht und arbeitet in Österreich und Ghana. Von der Dynamik und Flexibilität in Afrika, sagt sie, können wir noch viel lernen.  ioa.angewandte.at

Der radikale Verzichter Seit zehn Jahren schon setzt sich Dietmar Eberle für das Haustechnikkonzept «2226» ein – für Häuser ohne Heizung, ohne Kühlung und ohne Lüftung. baumschlager-eberle.com 

Der innovative Verfechter Für Bernd Vogl sind neue Technologien die einzige Möglichkeit, um die Klimakrise und den Umstieg auf erneuerbare Energien in den Griff zu bekommen. klimafonds.gv.at

Mode, Design, Bauen, Wohnen und sogar Lebensmittelindustrie sind ohne Hightech und Digitalisierung heute nicht mehr vorstellbar. Dennoch ist in den letzten Jahren ein Gegentrend zu beobachten: «back to the roots», Rückbesinnung auf das Alte und Archaische. Worauf führen Sie das zurück? 

Mueller Wir leben in einer Zeit, in der wir verstehen, dass wir den Planeten zugrunde gerichtet haben, indem wir den Menschen über alles gestellt haben. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem es gilt, neue Beziehungsgeflechte zu schaffen – neue Regeln für die Koexistenz zwischen Mensch, Tier und Vegetation. Im Bestfall können uns Hightech und Digitalisierung dabei helfen. Das sind spannende neue Arbeitsfelder für uns Architekt:innen! 

Vogl Ich sehe darin eine gewisse Sehnsucht, um das Reale, das Angreifbare, das Unmittelbare, das Sinnliche, das Alltägliche nicht zu vergessen. Technische und technologische Innovationen funktionieren für mich nur im Gleichgewicht mit dem ganz realen Alltag – vor allem jetzt, in einer von Krisen gebeutelten Zeit. 

Das heisst, es geht um einen gewissen Halt? 

Vogl Ja. Wir vertrauen nicht allein auf neue technische Innovationen, sondern machen
uns unabhängig und autark. Einkochen, ­Brotbacken, Gemüseanbau, Kompostieren,
Energieerzeugung am eigenen Grundstück und so weiter – alles keine Zufälle, sondern Zeichen der Zeit. 

Eberle Ich finde es spannend, dass unser Leben, unsere Häuser, unsere Autos, unsere Maschinen in der Industrie und unsere digi­talen Kommunikationsmittel immer weniger Energie verbrauchen und immer weniger CO2 ausstossen, wir gleichzeitig aber einen immer höheren technischen Aufwand treiben müssen, um diese hochkomplexen Systeme am Laufen zu halten. Das ist doch absurd! Bis heute sind wir in diesem Mechanismus gefangen. 

Um genau diesem Mechanismus zu entkommen, haben Sie mit dem Projekt «2226» vor rund zehn Jahren ein Exempel statuiert. Sie haben bewiesen, dass man ein Bürohaus auch ohne Heizung und Kühlung bauen kann. Wie funktioniert das Prinzip? 

Eberle Das Projekt «2226» basiert auf der Idee, Energie und vor allem komplexe Betriebsenergie einzusparen. Es gibt keine Heizung, keine Kühlung und auch keine mechanische Belüftung. Stattdessen arbeiten wir mit dem, was da ist – mit der Abwärme des Menschen, aber auch mit der Abwärme unserer technischen Geräte wie etwa Computer, Server,
Monitor, Fernseher, Kühlschrank, Geschirr­spüler, Waschmaschine und so weiter. 

Das geht sich aus? 

Eberle Ja, das geht. Allein der Mensch bringt schon 80 Watt mit, das ist so viel wie 20 LED-Glühbirnen, das muss man sich ­einmal vorstellen! Man muss nur aufpassen, dass man diese wertvolle Wärmeenergie beim Lüften nicht beim Fenster hinausbläst. Wir wissen heute, dass der Wärmeverlust zwischen Innen- und Aussenraum zu einem Viertel auf schlecht gedämmte Wände und schlechte Fenster und Türen zurückzuführen ist – und zu 75 Prozent auf Lüftungsverluste! 

Lüften muss man aber trotzdem.
Wie funktioniert das? 

Eberle Mit der richtigen Software. Wir überprüfen im 90-Sekunden-Takt die Luftqualität in Hinsicht auf Temperatur, Luftfeuchtigkeit und CO2-Gehalt, und mit einer eigens entwickelten Software, die auch mit meteorologischen Wetterdaten wie etwa Temperatur, Niederschlag, Windstärke und Windrichtung gespeist wird, können wir berechnen, wann sich welche Fenster öffnen sollen. Das Öffnen und Schliessen passiert mit kleinen Motoren. 

Vogl Ich finde das Konzept sehr spannend. Ich nehme an, der Titel «2226» bezieht sich auf den Komfort im Innenraum und benennt die Innenraumtemperatur zwischen 22 und 26 Grad Celsius? 

Eberle Genau. Die rechnerisch ermittelte Schwankungsbreite liegt zwischen 22 und 26 Grad. Tatsächlich ist die reale Schwankung noch viel geringer. In der Regel liegt die Innenraumtemperatur zwischen Sommer und Winter zwischen 22 und 25 Grad. An einigen wenigen Tagen im Hochsommer klettert die Innenraumtemperatur auf 26 Grad hoch. 

Sie haben schon einige «2226»-Bürogebäude gebaut. Nun wird auch ein Wohnhaus nach demselben Prinzip errichtet. 

Eberle Ja, und zwar in Vorarlberg. Im Prinzip funktioniert das Modell genauso wie beim Bürohaus, nur gibt es im Wohnbau natürlich einen deutlich höheren Warm­wasserbedarf. Wir haben aktuell rund 45 Projekte nach diesem Prinzip in der Pipeline – nicht nur in Mitteleuropa, sondern auch in China und Vietnam. 

Wäre «2226» auch in Ghana denkbar? 

Mueller Ja, absolut! Beim Bauen im tropischen Klima ist das Zusammenspiel von Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Luft­zirkulation essenziell. Ganz zentral geht es um Kühlen und Entfeuchten. Und je weniger Energie dafür gebraucht wird, desto besser. 

Eberle Ja, allerdings würde die Innenraumtemperatur dann wahrscheinlich auf «2428» leicht nach oben korrigiert. 

Herr Vogl, Sie sind seit Anfang des Jahres Geschäftsführer des Klima- und Energiefonds. Ist Klimaschutz ohne Hightech heute ­überhaupt noch denkbar? 

Vogl Nein, ohne Technik können wir solche komplexen Aufgaben heute nicht mehr lösen. Im Gegenteil – wir brauchen sogar noch neue Technologien, um die Klimaziele zu erreichen. Das Beispiel «2226» zeigt, dass es auch hier ohne Technik nicht geht. In diesem Fall gibt es eine sehr ausdifferenzierte Software, die die Luftqualität im Haus misst und entsprechend reagiert. Aber ebenso klar ist auch: Wenn der Faktor Mensch nicht mitmacht, dann wird es nicht funktionieren. Es ist deshalb wichtig, dass Transformationsprozesse ganzheitlich gedacht werden.

Die einen sehen die Antwort auf Klimaschutz in immer neueren Technologien, die anderen propagieren Verzicht, Suffizienz und die Rückbesinnung auf alte Werte. Wie sehen Sie das? 

Vogl Ich habe das Gefühl, dass uns die ­Verhältnismässigkeit zwischen Aufwand und Nutzen in den letzten Jahren etwas entglitten ist. Insofern finde ich den Weg zurück zur Einfachheit durchaus angemessen. Andererseits darf man nicht vergessen, dass uns in den kommenden 20 Jahren eine immense Aufgabe bevorsteht: Wir müssen uns von fossilen Brennstoffen verabschieden und den gesamten Bestandsbau in Österreich von Öl und Gas auf erneuerbare Quellen umstellen. Das geht nicht ohne Technologie! Um das in den Griff zu bekommen, brauchen wir Geld, Arbeitskräfte und technische Innovationen. 

Welche Technologien faszinieren Sie denn besonders? 

Vogl Ich war jahrelang Leiter der MA 20 –Energieplanung in der Stadt Wien. Als ich das Amt 2011 übernommen habe, haben wir uns damals die innovativsten Haustechnikkonzepte in Vorarlberg und der Schweiz angeschaut. Es ging um Bauten, die sich im weitesten Sinne mit den auf dem eigenen Grundstück verfügbaren Ressourcen selbst versorgen. Diese Idee haben wir auch in der Stadt Wien umgesetzt. Eines der Highlights ist sicherlich der Schulcampus in der Seestadt Aspern, der in der Lage ist, 95 Prozent der benötigten Energie am eigenen Grundstück zu generieren – in Form von Photovoltaik und Geothermie. Nur fünf Prozent der Energie müssen extern zugeliefert werden. Das ist genial. 

Mueller Wir sind absolut überbevölkert. Wenn alle so leben wollen wie wir, dann geht sich das nicht aus! Das heisst: Wir müssen unseren ökologischen Fussabdruck notge­drungen verkleinern. Diese Form der Energieautarkie ist eine Antwort dazu. 

Wofür werden Sie sich in den nächsten Jahren im Klima- und Energiefonds starkmachen? 

Vogl Mir geht es um eine ganzheitliche Veränderung im Bauen. Ein spannendes Thema sind die neuen Energiegemeinschaften, die abseits des bereits etablierten Marktes ent­stehen. Das ist ein absolutes Novum! Meine Aufgabe wird es sein, solche Entwicklungen und Neuerungen zu fördern, zu unterstützen und mit diversen Best-Practice-Beispielen so weit zu bringen, dass sich möglichst viele Player am Markt daran orientieren können. 

Frau Mueller, Sie lehren an der Universität für angewandte Kunst. Die Angewandte steht seit langer Zeit für Vision und Hightech. Was genau möchten Sie den Studierenden vermitteln? 

Mueller Ich verfechte die Meinung, dass in der Architekturausbildung ganz unterschiedliche Schwerpunkte und Ideologien nebeneinander bestehen sollten. Immer in die Zukunft gerichtet, immer «cutting edge», was die digitalen Werkzeuge angeht. In meiner eigenen Lehre interessiert es mich, mit Studierenden und deren Skills in anderen kulturellen Kontexten zu ­arbeiten. Ich leite das Lab «Applied Foreign Affairs», in dem wir Projekte experimentell und transdisziplinär entwickeln, und oft setzen wir diese Projekte mit der Bevölkerung in die Realität um. Es geht immer um die Frage: Welchen Mehrwert kann die Architektur leisten? 

Es ist schon fünf vor zwölf. Haben wir noch Zeit, umzulernen? 

Mueller Ich denke nicht, dass wir es mit Umlernen allein schaffen. Ich spreche von radikalem «Unlearning». In den letzten Jahrzehnten waren die westlichen, kapitalistischen und auf den Globalen Norden ausgerichteten Strategien in der Lehre so stark verankert,
dass wir uns alle wirklich komplett neu ­programmieren müssen. 

Sie verbringen die Hälfte Ihrer beruflichen Zeit in Ghana. Was kann Ghana von Österreich lernen? 

Mueller Wenn ich nach Österreich zurückkomme, denke ich mir oft: ein Paradies auf Erden, mit guter Luft, frischem Wasser, intakten Landschaften und funktionierender Infrastruktur! Das würde ich mir auch für Ghana und viele andere Kontexte wünschen. 

Und was kann Österreich von Ghana lernen? 

Mueller Die kreative Aneignung von Stadt, Räumen und Gebäuden. Auch dann, wenn die Rahmenbedingungen herausfordernd sind. Alles geht, alles ist möglich. Das ist eine
mentale Einstellung, die mich sehr inspiriert. Etwas von dieser Dynamik und Flexibilität würde auch Österreich guttun. 

In welchem Bereich wünschen Sie sich eine Abkehr von Hightech-Lösungen und eine Rückbesinnung auf das Archaische? 

Eberle Egal ob Hightech oder Lowtech: Was wir in der Architektur dringend brauchen, ist Kostenwahrheit. Das wünsche ich mir von ganzem Herzen! 

Mueller An der Angewandten beschäftigen wir uns mit virtueller Architektur und dem Metaverse. Ich halte das für wichtig. Zugleich dürfen wir aber die reale Welt mit ihren realen Problemen nicht aus den Augen verlieren. 

Vogl Wir konsumieren immer mehr und mehr. Ich wünsche mir mehr Fokus auf unsere eigene Schöpfungskraft – und endlich eine Abkehr vom permanenten Konsumieren. 

Abschlussfrage: In einer Welt ohne Strom, Energie und Technologie wäre ich …

Mueller … immer noch sehr gerne Architektin, Forscherin und Lehrende. 

Eberle … ein einfacher, aber glücklicher Handwerker. 

Vogl … genauso zufrieden wie jetzt. 

 

DIE GESPRÄCHSPARTNER:INNEN

Baerbel Mueller (50) studierte Architektur in Wien. Seit mehr als 20 Jahren praktiziert, forscht und unterrichtet sie, seit 2022 ist sie Vorständin des Instituts für Architektur an der Universität für angewandte Kunst Wien. Zudem leitet sie das Applied Foreign Affairs Lab, das räumliche, ökologische und kulturelle Phänomene in Subsahara-Afrika und im Nahen Osten untersucht. ioa.angewandte.at

Dietmar Eberle (70) studierte Architektur in Wien und gründete 1985 das Büro Baumschlager Eberle, das heute weltweit zwölf Büros mit insgesamt 300 Mit-arbeiter:innen betreibt. Er lehrte bereits an zahlreichen Universitäten und leitete an der ETH Zürich bis 2016 das Wohnforum. 2011 entwickelte er das Lowtech-System «2226», das in immer mehr Projekten Anwendung findet. baumschlager-eberle.com

Bernd Vogl (55) studierte Betriebswirtschaft mit dem Schwerpunkt Umwelt-ökonomie. Er war Referent in der Abteilung Umweltökonomie und Energie des BMLFUW und leitete das Projekt «Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit». Von 2011 bis 2021 war er Leiter der MA 20 – Energieplanung in der Stadt Wien. Seit 1. Januar ist er neuer Geschäftsführer des Klima-
und Energiefonds. klimafonds.gv.at

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