© Burgtheater

Martin Zehetgruber: Architekt von Gedankenräumen

Mit unserer LIVING-Kunstherbst-Serie präsentieren wir Ihnen ab sofort Ausstellungshighlights, Szene-Events und ausgewählte Persönlichkeiten der heimischen Kunstszene. Aktuell sprachen wir mit einem der führenden europäischen Bühnenbildner, Martin Zehetgruber. Die jüngste Arbeit des Steirers eröffnete soeben die neue Spielsaison des Burgtheaters.

16 . September 2023 - By Verena Schweiger

Header Bild: »Automatenbüfett« am Burgtheater Wien, Regie: Barbara Frey, Bühne Martin Zehetgruber, Mitarbeit Bühne und Fotografie Stephanie Wagner. 

Es gibt sie, diese stillen, aber steilen Karrieren, deren Protagonisten sprichwörtlich Großes auf die Bühne bringen und dennoch stets bescheiden im Hintergrund operieren. Von dem gebürtigen Steirer Martin Zehetgruber könnte man dies jedenfalls sagen. Seit Jahrzehnten macht er als einer der renommiertesten europäischen Bühnenbildner das Theater- und Opernpublikum zu Schaulustigen. Seinen Arbeiten wohnt eine sprechende Architektur inne, deren Atmosphäre die Aussage der Stücke und die Pointen der kollaborierenden Regisseur:innen untersützt, ausreizt und weiterträgt.

Szenerien, die im Kopf bleiben

Martin Zehetgrubers Bühnenbilder sind der Stoff, aus dem gewissermaßen die (Alb-)Träume sind. Nämlich jene des Publikums. Sie verführen und rühren an, bleiben im Gedächtnis. Die von ihm entworfenen Szenerien begleiten einen oftmals lange nach Ende der Vorstellung. Es sind Bühnenbilder, die neue Aspekte der dramtischen Literatur offenbaren und sie so neu erschließen. Man erinnere sich an sein meisterhaftes Bühnenbild für Andrea Breths famoser Interpretation von Schillers Klassiker »Don Carlos« aus dem Jahr 2004. Die damaligen Burgtheater-Stars Johanna Wokalek und Sven-Eric Bechtolf fanden sich als von Intrigen geplagtes spanisches Königspaar anstatt in einem Palast in einem Glaslabyrinth in Form einer unterkühlten Büroarchitektur wieder. Martin Zehetgrubers Bühnenbild machte die psychologische Tiefenschürfung der Regisseurin noch schmerzhafter und attestierte den Figuren eine Nulllinie an Privatheit. Ein Palast als Überwachungsstaat. Ein Bild, das den damaligen Puls der Zeit hellsichtigt nachfühlte, ohne plakativ zu aktualisieren. Eine Meisterleistung. Die diesjährige Saisoneröffnung am Burgtheater trug ebenso seine ästhetische Handschrift. Mit der schweizerischen, scheidenden Leiterin der Ruhrtriennale und Regisseurin, Barbara Frey, arbeitete er an Shakespears »Sommernachtstraum«. Als Ko-Produktion mit deutschen Fesitval übersiedelte die Inszenierung nach wenigen Tagen von Duisburg nach Wien. Der Märchenwald blieb auch im Haus am Ring ein entzaubertes Wäldchen, das so manche Passage des Shakespear'schen Textes neu entdecken ließ. Doch wie entstehen diese Gedankenräume für das Publikum, und wie verführt man es zum Schauen? LVING sprach mit Martin Zehetgruber.

Sven Eric-Bechtolf und Johanna Wokalek bespielten in Andrea Breths »Don Carlos« ein verglastes Labyrinth als Sinnbild eines Überwachungsstaates.

© Arthaus Musik, Bernd Uhlig

»Ein Sommernachtstraum« ist die jüngste Arbeit von Martin Zehetgruber und eröffnete soeben die neue Spielzeit am Wiener Burgtheater.

© M. Horn

LIVING: Als Bühnenbildner sind Sie gewissermaßen ein Architekt von Gedankenräumen. Wie entstehen die ersten Bilder für eine Neuproduktion?

Martin Zehetgruber: Bilder - oft auch nur Atmosphären blitzen meist zwischen den Zeilen von Texten auf, die nicht zwingend die des Stückes sein müssen, aber immer subkutan damit  korrelieren. Es sind offene Assoziationsfelder, die Ahnungen evozieren und Erinnerungen auslösen. Wie ein Geruch, der plötzlich etwas scheinbar Vergessenes wieder ins Hirn zwingt, ob man will oder nicht. Bisweilen ist es nur ein Wort oder ein Satz, die sich mir meist beim Laufen vordrängen, Erinnerungsblitze auslösen und über die Zeit der Bewegung ein Bild hochdämmern lassen.  Danach - im Austausch mit meiner Frau Stephanie Wagner (Bühnenbildnerin, Anm.) – manifestiert es sich immer klarer und gerinnt in eine Form.

Wie entscheidend ist in dieser frühen Phase der Austausch mit der Regie?

Vorgespräche mit Regisseurinnen oder Regisseuren gibt es so gut wie nie und beschränken sich meist nur auf die Nachfrage, was ich von einem Stückvorschlag halte, und ob mich diese Arbeit  interessieren würde. Die eigentlichen Gespräche finden dann vor dem Modell oder in stundenlangen Telefonaten statt. Wobei sich die Regisseurinnen und Regisseure auch da in ihren Bedürfnissen sehr unterscheiden. Beispielhaft kann ich es durch zwei Antipoden des Theaters Andrea Breth und Hans Kresnik verdeutlichen: Mit Andrea haben meine Frau und ich oft das ganze Stück im Modell durchgestellt und in einem Storyboard festgehalten, das sie dann während der Proben meist minutiös reproduziert. Mit Hans hingegen gab es nie Gespräche am Modell. Immer am Vorabend zu jeder Probe gab es ein Treffen mit der Dramaturgie und den Assistenten oder Assistentinnen, bei dem die jeweiligen Bilder und szenischen Situationen des nächsten Tages direkt entwickelt wurden.

Neben Elementen wie szenischer Raum, Licht, etc. ist die Schaulust des Publikums durchaus eine wichtige Komponente. Wie denken Sie diese mit?

Bei dem Voyeur, der ich bin, denkt sich das automatisch mit. Das ist auch eines der vielen verbindenden Momente mit meiner Frau und der Grund, warum wir beide sehr gerne im Dunkeln auf Proben sitzen.

Zugespitzt formuliert: Ein Bühnenbild sollte nicht bloße Kulisse sein, sondern ein stiller Darsteller, Element und auch Ausdrucksmittel für ein Stück. Wie entwirft man eine sprechende Szenerie?

Eine Bühne sollte nie Kulisse sein, sondern muss in seiner Konzeption unbedingt Spielanlässe bieten. Ich versuche es meinen Studierenden immer über einen Spielplatz zu erklären, der den Kindern, wenn er gut ist, nicht nur zur Bewegung animiert, sondern auch Denkanreize und Räume zum Träumen bietet. Nur sollte man dabei das Bild eines Spielplatzes nicht romantisieren. Es geht nicht um die Behauptung von Idylle, wie auch Grausamkeit altersunabhängig ist.

Es geht also um Dynamik und Reize?

Ich denke einen Raum nicht zwingend still, im Gegenteil. Es können Geräusche, die in einem Raum eingeschrieben sind, auf ganz unaufgeregte Weise eine Geschichte oder Geschichten transportieren und somit Bilder beim Publikum evozieren. Wie das Knarren eines Bodenes unter einem Teppich, das an gerade zerbrechende Knochen erinnert. Oder auch bei der Produktion »Die Ratten« von Gerhard Hauptmann (Regie: Andrea Breth, Anm.) 2019 am Burgtheater: Der gesamte Boden war mit zerknüllten Zeitungen bedeckt, wodurch bei jeder Bewegung ein leises, unangenehmes Rascheln zu vernehmen war. Das sind wichtige Elemente. Bisweilen gab es aber auch unerwünschte akustische Akzente. Die knarzende Konstruktion für »Don Giovanni« bei den Salzburger Festspielen 2002 schmerzt immer noch sehr. Dirigent Nikolaus Harnoncourt reagierte legendär durch seine Unterscheidung zwischen verortbarem und unerklärbarem Grund eines Geräusches: Er hat nur das Unverortete problematisiert, da es durch die Suche nach der Ursache die Aufmerksamkeit bindet.

Ihre Bühnenbilder oszillieren zwischen naturalistischer Darstellung und Abstraktion. Wie finden Sie hier die Balance?

Durch Erinnerung. Da sich meine Arbeit auf Gesehenes bzw. Erlebtes stützen, kommt immer eine Unschärfe mit ins Spiel, mal mehr mal weniger.

Sie führen auch diverse »Arbeitsehen«, wenn man das so nennen darf und arbeiten teils über Jahrzehnte mit renommierten Regisseur:innen wie Andrea Breth zusammen. Wie erfolgt mit solch langjährigen Weggefährten der Dialog?

Ich weiß meist sehr genau, was zumutbar ist und wie ich trotzdem Grenzen überdehnen kann, um die Spannung in der Zusammenarbeit zu halten. Je nach Persönlichkeit, steht die Körperlichkeit und Spielfreude im Vordergrund, oder es ist eher das Statuarische, das bevorzugt wird, da jegliche Bewegung Angst macht.

Wie frei sind Sie in Ihrer Arbeit als Bühnenbildner gegenüber der Regie?

Abgesehen von meiner oben erwähnten Höflichkeit, bin ich vollkommen frei.

Sie haben Bühnenbild an der Universität für Darstellende Künste in Graz studiert und direkt in diesem Berufsbild eine sehr erfolgreiche Karriere hingelegt. Wie kam es zu dem Berufswunsch?

Hier kann ich nur meinen bereits erwähnten Voyeurismus nennen.

Gibt es berufliche Träume, die sich bisher nicht erfüllen ließen?

In dieser Frage halte ich ausnahmsweise nichts von Träumen, da machen sie nur unglücklich und neidbestimmt. Es gibt aber neue Projekte, die meine Frau und ich inzwischen vorantreiben. Mehr kann ich dazu leider noch nicht sagen.

Wir sind ein Magazin, das sich mit Design, Interior und Architektur beschäftigt. Gibt es Tipps, die von der Bühne auch im eigenen Zuhause funktionieren?

Raum lassen und mit Licht füllen. Ansonsten: alles ist Bühne!

Vielen Dank für das Gespräch und Ihre Zeit. Wir freuen uns auf weitere Arbeiten!

Die Bühnenbilder von Martin Zehetgruber waren u.a. auch in »Der Prinz von Homburg« bei den Salzburger Festspielen zu sehen. Die Regie führte Andrea Breth, mit welcher Zehetgruber seit Jahrzehnten zusammenarbeitet.

© Bernd Uhlig, Salzburger Festspiele

Martin Zehetgruber, geb. 1961 in der Steiermark, lebt seit den 1990er Jahren in Stuttgart. Er studierte Bühnenbild an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Graz. Noch während des Studiums realisierte er erste Bühnenbilder, sowie Arbeiten im Grenzbereich von Performance und Theater. Danach gründete er mit Martin Kusej die Produktionsgemeinschaft »My friend Martin«. Es folgten Arbeiten an Häusern wie dem Staatstheater Stuttgart, Thalia Theater Hamburg, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Volksbühne Berlin, Kammerspiele München, Residenztheater München und dem Burgtheater in Wien. Im Bereich der Oper arbeitet er an internationalen Häusern wie der Opera Bastille Paris, Liceu in Barcelona, La Monnaie in Brüssel, Nederlandse Opera Amsterdam, Opernhaus Zürich, Staatsoper München, Staatsoper Berlin, Salzburger Festspiele und dem Madrider Opernhaus Teatro Real unter anderem mit Dirigenten wie Daniel Barenboim, Nikolaus Harnoncourt und Mariss Jansons. Zu seinen regelmäßigen Arbeitspartnern unter den Regisseuren zählten bzw. zählen: Hans Kresnik, Stephan Kimmig, Jossi Wieler, Andrea Breth sowie Martin Kusej. Seit 2001 ist Professor für Bühnenbild in der Fachgruppe Kunst an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Zehetgruber ist der erste Künstler, der sechs Mal für den Nestroy-Theaterpreis nominiert wurde und ihn fünf Mal gewinnen konnte.

© beigestellt

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