© Kasper Bøttern

In skandinavischem Design fühlen wir uns wohl. Die Entwürfe sind praktisch, minimalistisch und funktional. Aber ist das wirklich alles? Eine Generation junger Kreativer definiert die nordische Formensprache gerade neu: Es kann ruhig ein wenig bunter und chaotischer sein.

18 . September 2023 - By Karin Cerny

Kreatives Sitzmöbel Addéra ist ein modulares Sofadesign von Felicia Arvid, das sich farblich individuell gestalten lässt. feliciaarvid.com

© A. Witt

Ewiges Licht Roh und ehrlich wollen die Design-Stücke von Christian + Jade sein. Ihre reflektierende Flamme ist ein skulpturales Wandstück für Kerzen. christianandjade.com

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Chaotisches Material Anstatt sich von klaren Linien anregen zu lassen, wirken die mundgeblasenen Objekte von Alexander Kirkeby verzerrt. alexanderkirkeby.com

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Organische Formen Mit ihren fröhlichen Glasobjekten wurde Helle Mardahl zum Star des neuen Skandi-Designs. hellemardahl.eu

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Der Finne Alvar Aalto (1898–1976) und der Däne Arne Jacobsen (1902–971) waren wegweisend für das, was wir noch heute als skandinavisches Design verstehen: Ihre Entwürfe sind minimalistisch und funktional, zeitlos elegant, clean, gemütlich und nicht zuletzt erschwinglich. Nordisches Design hatte stets auch eine soziale Ebene, man wollte für alle produzieren, für möglichst viele Menschen zugänglich sein. Die Liebe der Skandinavier zur Natur zeigt sich in den organischen Formen, man denke nur an Aaltos berühmte »Savoy«-Vase, die an den Formen finnischer Seen Maß nahm. 

MUT ZUM EXPERIMENT

Wie geht eine jüngere Generation mit diesem prägenden Erbe um? »Ich glaube, dass es im skandinavischen Designethos sehr wohl Raum für Innovation und Experimente gibt, der es den Designer:innen ermöglicht, ihren Kreationen mehr Individualität zu verleihen«, sagt der dänische Glasmacher Alexander Kirkeby. Anstatt sich von klaren Linien anregen zu lassen, wirken seine mundgeblasenen Objekte verzerrt. »Ich möchte alltägliche Momente wie das Trinken von Wasser durch meine Kollektionen zu ästhetischen und haptischen Erlebnissen machen«, so Kirkeby weiter. »Während sich traditionelles skandinavisches Design durch Funktionalität und Minimalismus auszeichnet, schätze ich die Freiheit, die chaotische Sprache der Materialien zu erkunden.« Es muss auch möglich sein, gängige Techniken grundlegend infrage zu stellen. Was wäre, wenn man den Schaum in Polstermöbeln beseitigen könnte? Die dänische Designerin Felicia Arvid, 1994 in Aarhus geboren, hatte zuerst Mode studiert, bevor sie ihre Kenntnisse auf Stoff zum Drapieren auf Stühle und Sofas übertrug. »Möbel kleiden die Person, die sie trägt«, ist ihr spartenübergreifendes Motto. Ihre kunstvoll gefaltete Infinity-Kollektion besteht nur aus zwei Materialien – Stoff und Stahl. Der Schaum wurde einfach weggelassen. Und ihr modulares Sofadesign erlaubt es, einzelne Teile wie Lehnen individuell zu konfigurieren. Das ermöglicht auch farbliche Anpassungen. Es geht verstärkt auch darum, Design zu schaffen, das unsere Beziehung zu den Objekten und Räumen, in denen wir leben, hinterfragt. Handwerk und Material sind dabei zentrale Aspekte. Roh und ehrlich wollen etwa die Designstücke von Christian + Jade, bestehend aus Christian Hammer Juhl aus Dänemark und Jade Chan aus Singapur, sein. Ihre reflektierende Flamme ist ein skulpturales Wandstück für Kerzen, das Flackern wird auf dem Metall reflektiert. Altmodisch und modern zugleich sind die Objekte der beiden Designer, die in Kopenhagen ansässig sind. 

ES WERDE BUNT!

Gleichzeitig ist nicht mehr alles beige und naturbelassen. Zeitgenössische Skandi-Designer:innen setzen auf Entwürfe, die  allein durch die Farbauswahl für gute Laune sorgen. Schließlich sind nicht nur im Norden die Winter lang und dunkel. Frida Fjellmans fantastischen Glaskunstwerke sollen die Betrachter:innen aus ihrem Alltag entführen. »Meine Arbeit ist kein Scherz, aber ich möchte Spaß haben«, betont sie in Interviews. Die juwelenartige Beleuchtung der Schwedin erinnert an Installationen, ihre Tier-Objekte könnten auch im Museum stehen. Überhaupt ist der Übergang zwischen Alltagsgegenstand und Kunstobjekt fließend, das beweisen auch die gefragten Glasobjekte der Dänin Helle Mardahl oder die bunten Tassen und originellen Tische von Shootingstar Gustaf Westman. Design darf spielerisch sein. Hygge ist bunt geworden. Das dänische Unternehmen Montana Furniture hat für seine Aufbewahrungssysteme und Möbel hippe Farben im Angebot, die sich individuell kombinieren lassen. Zuletzt ließ man sich vom italienischen Memphis Design inspirieren. Nachhaltigkeit stand im Norden schon immer hoch im Kurs. Daran halten auch junge Designer:innen fest. »Viele meiner Produkte werden aus lokalen Materialien hergestellt, die ich unterwegs finde, beispielsweise Holz aus norwegischen Wäldern. Es geht in Skandinavien viel um Recycling und die Erforschung nachhaltiger Materialien«, sagt Anna Maria Øfstedal Eng, die für ihre skurril-skulpturalen Entwürfe bekannt ist. »Ich war es ein wenig leid, dass im skandinavischen Design alles so ähnlich aussah, alles so minimalistisch war, dass ich manchmal das Gefühl hatte, es mangle ihm an Einzigartigkeit. Und so habe ich letztendlich das Gegenteil geschaffen.« Wenn es nach ihr ginge, könnte es ruhig ein bisschen wilder zugehen. »Unsere Welt verändert sich dramatisch. Und ich bemerke, dass skandinavisches Design in letzter Zeit immer rebellischer wird, auch, um diesen Wandel zum Ausdruck zu bringen.« 

TAKTILE INTERAKTION

Sisse Holst Pederson aus Dänemark wiederum arbeitet mit Latex, Wachs, Holz und Wolle. Ihr Ziel ist es, Objekte des Alltags mit Spiritualität aufzuladen. Und die dänische Textildesignerin und Künstlerin Kristine Mandsberg reagiert auf unsere digitale Überflutung. Ihre farbenfrohen Entwürfe laden dazu ein, mit ihnen zu spielen. »Wir müssen uns darüber im Klaren sein, wie wichtig eine taktile Interaktion mit der realen Welt ist – besonders heute, wo wir so viel Zeit am Bildschirm verbringen. Wenn wir uns auf eine Erfahrung einlassen, hat das eine viel stärker Wirkung«, sagt sie. Ein positives räumliches Erlebnis in den eigenen vier Wänden soll helfen, einen stres­sigen Alltag besser zu bewältigen. »Der spielerische Ansatz meiner Entwürfe ist eine Möglichkeit, sie mit den Benutzer:innen zu verbinden – ein demokratischer Aspekt, der im skandinavischen Design eine lange Tradition hat«, betont Mandsberg. Vielleicht ist dieses Denken ein Geheimrezept dafür, dass Skandi-Design nach wie vor am Puls der Zeit bleibt, nie unmodern wird. In einer ständigen Frischzellenkur und einem radikalen Erneuerungsprozess werden alte Werte überraschend neu interpretiert. Man schaut zurück, um nach vorne zu blicken.

Alltagsmagie Sisse Holst Pederson arbeitet mit Latex, Wachs, Holz und Wolle. Ihr Ziel ist es, Objekte des Alltags mit Spiritualität aufzuladen. sisseholstpedersen.com

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Memphis Design goes north Es muss nicht immer Beige sein, das beweisen die hippen Farben von Montana Furniture. montanafurniture.com

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Hallo Hase! Frida Fjellmans fantastische Glaskunstwerke sollen Spaß machen. Sie könnten auch im Museum stehen. fridafjellman.com

© Yellows.dk

Alles fließt Anna Maria Øfstedal Eng ist für ihre skurril-skulpturalen Entwürfe bekannt. Wie bei diesem Keramik-Ölbrenner, der zu schmelzen scheint. ofstedaleng.no

© J. Lindström

Keine Berührungsängste Die dänische Textildesignerin Kristine Mandsberg reagiert auf digitale Überflutung.Ihre Entwürfe laden dazu ein, mit ihnen zu spielen. kristinemandsberg.com

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LIVING Nr. 06/2023
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