Südtirol als Baukultur-Land
Das sonnige Südtirol glänzt nicht nur kulinarisch, es gilt heute als Baukultur-Musterland. Eine solche Dichte an architektonischer Qualität findet sich sonst bestenfalls noch in der Schweiz – und es wird immer noch besser. Und das hat vielerlei Gründe.
23 . November 2022 - By Maik Novotny
Wenn man beim Überqueren des Brennerpasses den mediterranen Süden als GPS-Ziel eingespeist hat, mag man das, was sich rechts und links im Etsch- und Eisacktal auffächert, nur unscharf im Rückspiegel sehen. Doch wenn man genauer hinschaut, entpuppt sich der Übergang von Tirol nach Südtirol als ein regelrechter ästhetischer Kulturschock.
SCHÖNER QUANTENSPRUNG
Muss man im Nordtiroler Matrei noch wild Zusammengewürfeltes zwischen schwefelfarbenem Vollwärmeschutz und billigem Rustikalkitsch ertragen, wird es hinter der italienischen Grenze sofort und unübersehbar um einen Quantensprung schöner. Die Häuser sind besser verputzt, stehen nicht wahllos herum, und selbst kleine Details wie Bushaltestellen sind liebevolle Designpreziosen. Fragt man Architekt:innen und sonstige mit Baukultur engagierte Menschen nach Best-Practice-Beispielen, wird Südtirol regelmäßig als Musterland angepriesen. Warum?Das ist eine lange Geschichte. Da wäre zum einen der Innovationsschub im Weinbau, als eine neue Generation nach dem Glykolskandal-Schock auf Qualität setzte. Mit solchem Erfolg, dass sie sich von ebenso jungen Architekt:innen neue exquisite Weingüter bauen ließen, mal spektakuläre Höhlenkathedralen wie etwa Manincor in Kaltern oder Zimmermann-Meisterwerk wie in Nals.
KULTURELLE SCHNITTSTELLE
Da wären zum anderen Protagonisten wie die Architekt:innen Walter Angonese in Kaltern, Markus Scherer in Meran oder Gerd und Michaela Bergmeisterwolf in Brixen, die in ihrem Umfeld mit Nachdruck auf Qualität forcieren und selbst mit besten Beispielen vorangehen, ebenso wie der Landesbeirat für Baukultur und Landschaft, der 2005 ins Leben gerufen wurde. Da wäre ein reichhaltiger kultureller Humus an der Schnittstelle von Nord und Süd, von alpinen und italienischen Traditionen. Und nicht zuletzt ganz handfest der Vorteil der regionalen Autonomie, der den Südtiroler:innen einen größeren Anteil Steuereinnahmen belässt als anderen italienischen Provinzen.
So auffällig ist der Qualitätsschub der letzten Jahre, da sowohl das deutsche Magazin »Baumeister« 2022 den Phänomen Südtirol ein ganzes Heft widmete wie das italienische »Casabella« in diesem Herbst der Stadt Brixen/Bressanone. Diese wird derzeit zur Pilgerstätte zeitgenössischer Architektur mit neuen Bauten von Bergmeisterwolf wie der »Villa Mayr« oder dem cool-weißen »Hotel Pupp« mitten in der Altstadt oder der bis ins Detail prachtvollen Stadtbibliothek des Trios Carlana Mezzalira Pentimalli, die 2021 eröffnet wurde.
WAHR, GUT UND SCHÖN
In Bozen mag derzeit mitten im Zentrum die gigantische Baugrube des umstrittenen und überdimensionierten WaltherParks der Signa Holding gähnen, doch abseits davon finden sich auch hier das Wahre, Gute und Schöne, etwa das filigrane Stahlfachwerk des Markas-Headquarters von ATP Architekten, das wie ein Diamant neben der Talstation der Seilbahn glitzert. »Eingebettet in eine der schönsten Landschaften Europas herrscht ein junger, frischer Unternehmergeist in Südtirol, das auch über die wirtschaftliche Basis für diese architektonischen Möglichkeiten verfügt«, sagt Paul Ohnmacht, Head of Design von ATP Architekten Ingenieure in Innsbruck.
Nicht zu vergessen neben einem gesunden Biotop florierender Klein- und Mittelunternehmen mit exzellenter handwerklicher Qualität ist natürlich der Wirtschaftsfaktor Tourismus. Ob das Gastronomie-Kleinod »Decantei« in Brixen (Pedevilla Architects), Luxusapartments wie das »Antonianum« in Meran (DMAA Delugan Meissl), kleine Berghütten oder das von Walter Angonese feinfühlig sanierte und erweiterte »Seehotel Ambach« aus den 1970er-Jahren: Auch hier setzen die Bauherren nicht auf schnell vermarktbare Oberflächlichkeit, sondern auf dauerhafte Schönheit. In diesem Panorama, bei mildem Klima und bestem lokalen Wein, darf sich der Gast aus dem Norden vom Kulturschock erholen.
Erschienen im Falstaff LIVING Residences 02/2022