© Helene Binet

Zeitgenössische Architektur in historischen Stadtzentren

Mutig und kreativ? Gewagt oder zu viel des Guten? Zeitgenössische Architektur in historischen Stadtzentren ist immer wieder Anlass hitziger Diskussionen. Denkmalschützer:innen verteidigen Altes, Architekt:innen wollen neu gestalten und weiterentwickeln. Doch was macht ein Stadtbild eigentlich besonders und wie schützenswert ist es?

23 . September 2022 - By Moritz Weinstock

Looshaus, Secession, Albertina-Flugdach, Haas-Haus, mumok – die Liste streitbarer Architektur in Wien ist lang – und ist es immer gewesen. Denn Architektur ist stets ein der Zeit und dem Zeitgeist verhaftetes Entwicklungsgebiet, eine Spielwiese, wenn man so möchte, auf der die einen nach Belieben herumtollen wollen und die anderen Regeln festlegen, damit es nicht zu bunt hergeht. Mit dem Blick auf Wiens Dächer und Fassaden staunt man ­dabei manchmal nicht schlecht angesichts der äußerst gewagten und eigenwilligen Dach­aufbauten sowie Fassadenneugestal­tungen. Ein Rooftop wie in der Falkenstraße beispielsweise sucht man in anderen histo­rischen Städten, wie etwa München oder Salzburg, jedenfalls lange. Auch das Hotel »Topazz Lamée« sticht aus dem Zinshaus­ensemble an der Kreuzung Rotgasse/ Lichtensteg im ersten Wiener Gemeinde­bezirk heraus. Aber stören diese neuartigen Gebilde das Stadtbild, sind sie eine Auf­wertung oder (in Bezug auf Dachaufbauten) gar ein notwendiges Übel im Sinne der ­Nachverdichtung?

Hotel »Indigo«, Wien Kleine Baulücke, großer Effekt. Die netzartige Verkleidung der Fassade des »Indigo«-Hotels ist ein gelungener Blickfang an der Rechten Wienzeile im fünften Bezirk.
bwm.at

© BWM Architekten/ Mato Johannik

»Das kommt darauf an«, meint Birgit Knauer. Sie ist interimistische Leiterin des Forschungsbereichs Denkmalpflege und Bauen im Bestand an der TU Wien und gegen eine pauschale Ablehnungshaltung: »Es sind Einzelentscheidungen, die zu treffen sind: Handelt es sich um ein vielleicht nicht denkmalgeschütztes, aber dennoch erhaltenswertes Gebäude, handelt es sich um ein städtebaulich exponiertes ­Gebäude und, letztlich, welche Qualitäten zeigt der Entwurf?«

Das bringt uns zum Begriff der »Schutz­zone«. Laut Wiener Bauordnung gilt es, nicht nur Einzelgebäude in Betracht zu ziehen und unter Schutz zu stellen, sondern auch das Zusammenwirken vieler Gebäude einzuschätzen, »die als Einzelbauten vielleicht gar keine Denkmale sind«, erklärt die Expertin. Problematisch an der Sache sei jedoch, dass es in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten zu einer kontinuierlichen Aufweichung der Idee der Schutzzonen gekommen ist, und »zahllose fragwürdige Bewilligungen« stattfanden

Stealth Building, NYC Vorgabe der Stadt New York war es, jede Art von Dachaufbau möglichst unsichtbar zu gestalten. Die gusseiserne Fassade des historischen Gebäudes lieferte das Vorbild für diese Penthouse-Wohnung. work.ac

© Bruce Damonte

Was führt Tourist:innen hierher?

Wien ist eine stark vom Tourismus geprägte Stadt, die auch heute noch über einige der prachtvollsten Bauten verschiedener Epochen verfügt. Stephansdom, Staatsoper, Hofburg, Natur- und Kunsthistorisches -Museum, Parlament, Rathaus – ganz zu schweigen von den sagenhaften Palais entlang der Ringstraße. Viele der rund fünf Millionen Übernachtungen im Jahr 2021 sind sicherlich auch den prachtvollen Gebäuden zuzuschreiben, die Tourist:innen anlocken. In den Vor-Corona-Jahren lag der Wert übrigens im Schnitt sogar dreimal so hoch! Was ist es also, das die Menschen in die Stadt zieht, und welche Verantwortung haben Architekt:innen und Architekturbüros bei der Gestaltung öffentlicher Lebensräume? »Storytelling ist zu einem Schlüsselwort heutiger Bauaufgaben geworden. Dabei übersieht man jedoch oft, dass die Story – die Geschichte – eigentlich in einem Gebäude schon drinsteckt. Für uns ist es wichtig, mit den Spuren zu arbeiten, mit Fehlern und Schichten der Vergangenheit, und nicht gegen sie«, erklärt Erich Bernard, Managing Partner, Gründer und Eigentümer von BWM Architekten, die unter anderem für das Hotel »Indigo« und das Hotel »Topazz« verantwortlich zeichnen.

Militärmuseum, Dresden Wie die Spitze eines Pfeils durchschneidet der Keil von Architekt Daniel Libeskind das Militärmuseum der Bundeswehr – und wurde damit zum »Kontrapunkt des Arsenals, der Krieg nicht anerkennt, sondern in Frage stellt.« mhmbw.de

© Hufton + Crow Photography

Die Besonderheit beider Baulücken war, dass sie nur sehr wenig Platz in Anspruch nahmen und folglich Raum für radikalere Konzepte ließen. Von außen ist ihre »Geschoßigkeit«, wie es Markus Kaplan, Partner bei BWM, nennt, nicht abzulesen. Das gilt sowohl für das Hotel »Topazz«, bei dem ein »sehr kleiner Bauplatz mit einer ­texturartigen Fassade aus ovalen Fenstern überzogen« wurde, als auch für das Hotel »Indigo«, dessen Fassade ein feinmaschiges Netz überspannt, »das einen geometrischen Körper beschreibt, der zwischen zwei ­Gebäuden eingezwängt wird und aufgrund dieses Zwangs zerknitternd in den Stadtraum ausweicht«, so Kaplan.

Streitbar – und gut so!

So also klingt es, wenn Architekt:innen ihre Ideen beschreiben und ihr Handeln rechtfertigen, dabei ist selbstverständlich, dass jedem Gebäude und jedem Um- oder Weiterbau eine lange Planungsphase vorausgeht. Streitbarer Entwurf oder nicht ist da erst einmal unwichtig. Was zählt, ist die ausführliche Auseinandersetzung mit der Geschichte eines Ortes und – bestenfalls – die enge Zusammenarbeit mit zuständigen Behörden wie etwa der Magistratsabteilung 19 für Architektur und Stadtentwicklung der Stadt Wien sowie mit Expert:innen für Denkmalschutz und Denkmalpflege.

Port House, Antwerpen Niemand Geringerer als Zaha Hadid hat diesen futuristischen Neubau auf die alte Feuerwache in Antwerpen gesetzt und dem Hafen damit ein neues Gesicht gegeben.
zaha-hadid.com

© Helene Binet
»Es macht auch eine Stadt aus, dass in einen historischen Stadtkern heutige, zeitgenössische, moderne Architektur hineingebaut wird. Dies muss allerdings mit einer besonderen Sorgfalt passieren und vor allem in der Auseinandersetzung mit der jeweiligen Umgebung.« – Markus Kaplan, Experte für Städtebau, BWM Architekten

»Eine Stadt kann als lebendiger Organismus betrachtet werden, das macht den Reiz aus. Ohne zeitgemäße Architektur gibt es keine Weiterentwicklung, genau wie es ohne Neuerungen in der Medizin oder in technischen Bereichen keine Weiterentwicklung gäbe«, erklärte die Behörde auf Nachfrage. Für sie sind »Interventionen« auf Gründerzeithäusern auch immer als Chance zu verstehen, »den Dialog Alt – Neu harmonisch wirken zu lassen«. Mit Blick auf Städte weltweit lässt sich genau diese Über­legung gut nachvollziehen. Überall schmückt man sich mit waghalsigen und kreativen Neuinterpretationen historischer Gebäude, beauftragt Größen der Architekturszene und gibt ihnen die Freiräume, Althergebrachtes in die Gegenwart zu transferieren. Dabei darf man jedoch eines nicht vergessen, erklärt Birgit Knauer: »Wir entscheiden heute, was wir als erhaltenswert erachten und an die kommenden Generationen vererben« – und man kann nur hoffen, dass das Thema Nachhaltigkeit in all seiner Bedeutungsvielfalt auch in Zukunft immer mitgedacht wird.

Union of Architects, Bukarest Eines der kontroversesten Gebäude der rumänischen Hauptstadt verbindet zeitgenössische Architektur mit den Nachwehen des kommunistischen Regimes, dessen Hauptquartier einst in dem Gebäude aus dem 19. Jahrhundert war.

© Vlad Ispas/Shutterstock

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